Zur Glaubwürdigkeit des EWU-Stabilitätspaktes – Einfache Berechnungen und mehrfache Zweifel
Matthias Sutter
European Integration online Papers (EIoP) Vol. 1 (1997) N° 12;
http://eiop.or.at/eiop/texte/1997-012a.htm
Date of Publication in EIoP: 24.7.1997
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Contents:


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I. Einleitung

Im Juni 1997 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) bei ihrem Treffen in Amsterdam sich in einer Entschließung auf den Abschluß eines Stabilitäts- und Wachstumspaktes (im folgenden nur als Stabilitätspakt bezeichnet) zur Sicherung stabiler öffentlicher Finanzen in der Europäischen Währungsunion (EWU) geeinigt. Die inhaltliche Ausformulierung des Paktes war bereits im Dezember 1996 in Dublin und im April 1997 in Noordwijk erfolgt.

Im Gegensatz zu einem Vorschlag des deutschen Finanzministers Waigel vom November 1995, der automatische Sanktionen bei einer Überschreitung der im Vertrag über die Europäische Union (EUV) für Mitglieder der EWU verpflichtenden Nettodefizitgrenze von 3% des BIP vorsah, werden Sanktionen im Falle eines übermäßigen Defizits gemäß dem neuen Stabilitätspakt in Abhängigkeit von der Wachstumsrate der jeweiligen Volkswirtschaft und von einem komplizierten Abstimmungsmechanismus zwischen der EU-Kommission und dem EU-Ministerrat verhängt. Dadurch wurden - gegen den Widerstand Deutschlands und auf Druck Frankreichs - starke diskretionäre Elemente in den Stabilitätspakt aufgenommen.

Der folgende Artikel rekapituliert zuerst die Motive für den Abschluß eines Stabilitätspaktes und seine institutionelle Ausgestaltung. Danach wird gezeigt, welche Ergebnisse eine ex-post Anwendung des Stabilitätspaktes zeigen würde. Einige einfache Berechnungen auf der Basis vergangener Daten bzgl. Nettodefizit und BIP-Wachstum der EU-Mitglieder lassen erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Stabilitätspaktes zur Disziplinierung der öffentlichen Verschuldung aufkommen. Statistische Tests des Zusammenhangs zwischen der volkswirtschaftlichen Wachstumsrate und dem staatlichen Nettodefizit verstärken diese Zweifel.

Im letzten Abschnitt wird ein aus der Spieltheorie stammender Machtindex für die Abstimmungsstärke möglicher EWU-Mitglieder berechnet, um die Abhängigkeit der Glaubwürdigkeit des Paktes von seiner institutionellen Ausgestaltung und der Verteilung der Abstimmungsmacht in der EWU aufzeigen zu können. Es zeigt sich dabei, daß ein Übergang zu einfachen Mehrheiten und eine mit dem Nettodefizit eines Staates gewichtete Abstimmungsstärke dem Stabilitätspakt insofern zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen könnte, als die Wahrscheinlichkeit für die Verhängung von Sanktionen steigen würde. Daraus ergäben sich stärkere Anreize für eine disziplinierte Finanzpolitik der Mitglieder der EWU.

II. Motive für den Abschluß eines Stabilitätspaktes

Eine Disziplinierung der öffentlichen Schuldner soll die Geldwertstabilität in der EWU absichern helfen, da es in der Währungsunion zu einer Zunahme der Verschuldungsanreize für die teilnehmenden Staaten kommen könnte.(1)

Die Verknüpfung von Geldwertstabilität und (Neu-)Verschuldung ergibt sich aus der Gefahr negativer Einflüsse laxer Finanzpolitik auf die supranationale Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) über folgende Wirkungskanäle:

a) Zwar ist die direkte staatliche Verschuldung bei der EZB oder den nationalen Notenbanken in der EWU ausgeschlossen, aber zu einer Erhöhung der Geldmenge kann es auch durch akkommodierende Geldpolitik der Zentralbank kommen, was eine indirekte Alimentierung der staatlichen Defizite darstellt. Damit ist beispielsweise zu rechnen, wenn erhöhte staatliche Verschuldung (vor allem eines großen Staates) unionsweit die Zinssätze erhöht, das erhöhte Zinsniveau zu starken negativen realwirtschaftlichen Effekten (vor allem Arbeitslosigkeit) führt und sich die EZB deshalb zu einer Ausweitung der Geldmenge veranlaßt sieht, um die reale Anpassung zu mildern.

b) Nationale Verschuldung kann über den Außenhandel mit Drittstaaten Geldmengenwirkungen in der EWU auslösen. Bei einer kreditfinanzierten Nachfragesteigerung kann es zu einem Aufwertungsdruck kommen, wenn der Zinsanstieg infolge der erhöhten Kreditaufnahme das Devisenangebot dermaßen ausweitet, daß es die zusätzliche heimische Devisennachfrage für verstärkten Güterimport - ausgelöst durch die staatliche Nachfrage - übertrifft. Besteht dann ein fixes Wechselkurssystem mit Drittwährungen (worüber in der EWU der Europäische Rat, nicht die EZB entscheidet), muß die gemeinsame Zentralbank ausländische Devisen aufkaufen und damit die Geldmenge erhöhen, was die Inflation ansteigen läßt.


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c) Mit steigender Schuldenquote der EWU-Mitglieder wächst der politische Druck auf die Zentralbank, eine expansive Geldpolitik zur Senkung der Zinssätze zu betreiben, um den Schuldendienst zu erleichtern.

Letztlich entscheidet aber die Unabhängigkeit der EZB darüber, ob der Euro, die gemeinsame Währung, stabil wird oder nicht (Bofinger 1997). Verschuldungsbeschränkungen für die EWU-Teilnehmer sind nur dann zusätzlich notwendig, wenn an eben dieser Unabhängigkeit gezweifelt wird. Aus den Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union läßt sich folgern, daß die Vertragschließenden damit gerechnet haben könnten (Vaubel 1997). Durch die hinlänglich bekannten Konvergenzkriterien sollte verhindert werden, daß die Regierungen der hochverschuldeten Mitgliedstaaten auf eine inflationäre Geldpolitik drängen würden, um ihre Schulden real entwerten zu können, und daß Regierungen, die ihre Haushaltsdefizite erhöhen, von der EZB eine expansive Geldpolitik zum Abbremsen des Zinsanstieges fordern würden.(2)

Jüngste Aussagen aus Frankreich über eine geldpolitische Unterstützung der künftigen Europäischen Zentralbank im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit lassen erahnen, daß sich die EZB ihre Unabhängigkeit erst erkämpfen wird müssen. Bestimmungen zur Beschränkung öffentlicher Verschuldung können zur Erreichung dieses Ziels zwischenzeitlich einen positiven Beitrag leisten.

III. Der Inhalt des Stabilitäts- und Wachstumspaktes

Bereits bei der Tagung in Dublin war von den Staats- und Regierungschefs den Ergebnissen der Verhandlungen der Wirtschafts- und Finanzminister über einen Stabilitätspakt zugestimmt worden. In Amsterdam wurden die Ergebnisse in einer Entschließung abgesegnet.

Der Pakt enthält eine Zielformulierung eines ausgeglichenen oder positiven Budgets, um die automatischen Stabilisatoren wirksam einsetzen zu können, ohne die 3%-Grenze beim Nettodefizit in konjunkturell schlechten Zeiten zu überschreiten. Jährlich sind Stabilitätsprogramme in den EWU-Mitgliedstaaten zu erstellen, in denen die mittelfristige Budgetpolitik dargelegt und auf Budgetkonsolidierung ausgerichtet werden soll. Diese Programme werden von der EU-Kommission und vom EU-Rat kontrolliert.

Zentraler Bestandteil des Paktes ist aber die Präzisierung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, das auf Artikel 104c des EG-Vertrags basiert, der bisher ein kompliziertes und sehr langwieriges Abstimmungsverfahren mit lediglich vagen Sanktionen beim Überschreiten der Defizit- oder Schuldenquotengrenze vorsah. Der Stabilitätspakt beschränkt sich auf eine Sanktionierung übermäßiger Defizite.(3)

Schrumpft in einer starken Rezession das BIP um mehr als 2%, darf die Defizitgrenze ohne weitere Sanktionen überschritten werden.

Bei einem Rückgang des BIP zwischen 0,75 und 2% erstellt die Kommission bei einem Defizit von mehr als 3% des BIP einen Bericht über den betreffenden Staat, zu dem der EU-Wirtschafts- und Währungsausschuß Stellung nehmen muß. Hält die Kommission das Defizit nicht für übermäßig, muß sie dies gegenüber dem Ministerrat rechtfertigen. Gelangt der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) mit qualifizierter Mehrheit (mit Stimmrecht des „Budgetsünders") und unter Berücksichtigung der Stellungnahme des betroffenen Staates allerdings zur Auffassung, daß ein übermäßiges Defizit besteht, hat der „Defizitsünder" 4 Monate Zeit, geeignete Abhilfen zu ergreifen.(4)


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Wird dies unterlassen, beschließen die Teilnehmer der EWU mit Zwei-Drittel-Mehrheit (gemäß Art. 104c Abs. 13 EG-Vertrag) und ohne Stimmrecht des „Budgetsünders", ob als Sanktion eine Einlage verlangt wird, die gegebenenfalls innerhalb von 10 Monaten unverzinslich in Brüssel zu hinterlegen ist und in eine Geldstrafe gleicher Höhe umgewandelt wird, wenn die Defizitüberschreitung nicht innerhalb von 2 Jahren korrigiert wird.

Die Höhe der Einlage beträgt 0,2% des BIP plus ein Zehntel der Prozentpunkte, um die das Haushaltsdefizit 3% des BIP übersteigt, maximal aber 0,5% des BIP.

Ergreift ein Staat Maßnahmen zur Reduktion des übermäßigen Defizits, bleibt das Verfahren in Schwebe. Sollten die Maßnahmen aber nicht umgesetzt werden oder sich als ungenügend erweisen, wird das Verfahren unverzüglich wiederaufgenommen.

Schrumpft das BIP um weniger als 0,75% oder wächst es, sollte die Defizitgrenze nicht überschritten werden. Es handelt sich dabei um eine Selbstverpflichtung der EWU-Teilnehmer.

In der geplanten Verordnung zum Stabilitätspakt wird der Wert für den Beginn automatischer Sanktionen nicht enthalten sein, sondern lediglich in einer Entschließung, die die Ratsmitglieder allerdings nicht bindet. Es steht diesen deshalb grundsätzlich frei, von Sanktionen auch dann abzusehen, wenn das BIP eines Staates wächst oder bis höchstens 0,75% schrumpft.

Daß ein solches Vorgehen nicht unwahrscheinlich ist, zeigt ein Blick auf vergangene Daten.

IV. Zweifel am Stabilitätspakt

A. Ein Blick auf historische Daten

Im folgenden werden die Gültigkeit des Stabilitätspaktes für den Zeitraum 1979 bis 1996 hypothetisch unterstellt und die Folgen des Paktes für die EU-15 Staaten oder die jeweiligen Mitglieder des Europäischen Währungssystems (EWS) dargestellt. (Vgl. die Tabelle 1 und Tabelle 2)

Die Wahl des Zeitraumes beginnt mit der Einführung des EWS, bei dem es sich um eine der EWU vorhergehende Stufe intensiver währungspolitischer Koordination zwischen den Teilnehmerstaaten(5), d.h. um ein System fixierter, aber anpaßbarer Wechselkurse handelt. Gleichzeitig ist das Europäische Währungssystem die erste Stufe der EWU, die von Juli 1990 bis Dezember 1993 dauerte. Seit 1994 (zweite Stufe der EWU) sind die EU-Mitglieder angehalten, übermäßige Defizite zu vermeiden. Vor Beginn der dritten Stufe ab 1999 entfällt lediglich die Sanktionierbarkeit übermäßiger öffentlicher Defizite.(6)

Im beobachteten Zeitraum überschritt das staatliche Nettodefizit in 160 von 270 möglichen Fällen 3% des BIP. Allerdings waren nur in 5 Fällen Wachstumseinbußen von über 2% des BIP und in 16 Fällen Wachstumseinbußen zwischen 0,75% und 2% des BIP zu verzeichnen.(7)

Zur Ermittlung der Fälle, in denen Gelder in Brüssel unverzinslich hinterlegt und in eine Geldstrafe umgewandelt hätten werden müssen, wird angenommen, daß der Europäische Rat in den Jahren, in denen das BIP zwischen 0,75% und 2% zurückgegangen ist, gegen Sanktionen votiert hätte(8). Das bedeutet, daß für ein solches Jahr und für Jahre mit BIP-Rückgangen größer als 2% kein übermäßiges Defizit festgestellt worden wäre und deshalb für die zurückliegenden 2 Jahre (selbst bei übermäßigem Defizit) keine Umwandlung in Geldbußen vorgenommen hätte werden müssen. Besteht im Folgejahr eines übermäßigen Defizits kein solches Defizit, im übernächsten Jahr aber wieder, werden die Sanktionen des Stabilitätspaktes nicht wirksam.


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In der überwältigenden Mehrheit der Fälle mit Defiziten über 3% des BIP hätte Geld unverzinslich in Brüssel hinterlegt (65 Fälle) und in Geldstrafen umgewandelt werden müssen (74 Fälle). Das unverzinslich hinterlegte Geld wäre allerdings wieder zurückerstattet worden. In diesem Fall besteht der Verlust für den betreffenden Staat im erlittenen Zinsentgang für die hinterlegte Summe.

Zieht man nur die jeweiligen EWS-Mitglieder in Betracht, so waren in 94 von 160 Fällen die Defizite größer als 3% des BIP, zu unverzinslichen Hinterlegungen wäre es in 40 Fällen und zu Geldstrafen in 44 Fällen gekommen.

Die hypothetischen, kumulierten Hinterlegungen oder Geldstrafen zwischen 1979 und 1996 oder während der EWS-Mitgliedschaft sind in Tabelle 3 enthalten. „Spitzenreiter" während der EWS-Mitgliedschaft ist bei den Einlagen Belgien mit 2,57% und bei den Geldstrafen Italien mit 6%.(9)

Es soll hier nicht behauptet werden, daß die Finanzpolitik der an der EWU teilnehmenden Staaten gegenüber dem Zeitraum 1979 bis 1996 unverändert bleiben wird.

Im EWS besteht gegenüber der EWU keine explizite Disziplinierung der staatlichen Finanzpolitik. Zwischen 1979 und 1996 gab es erhebliche nominelle Wechselkursanpassungen („realignments"; Mayer, 1996, S. 169) wodurch negative Einflüsse expansiver Verschuldung einzelner Staaten auf ihren Wechselkurs gegenüber der Ankerwährung Deutsche Mark mitkompensiert werden konnten. Im Zuge der Vorbereitung auf die dritte Stufe der EWU sind in den EU-Staaten Budgetkonsolidierungen in Angriff genommen worden.

Der Erfolg der Konsolidierungen bzw. die strukturelle Reform der Budgets muß aber erst bestätigt werden. Zur Erfüllung der fiskalischen Konvergenzkriterien im Jahr 1997 als Eintrittsbedingung in die EWU werden Budgetausgliederungen vorgenommen oder einnahmensteigernde einmalige Maßnahmen gesetzt(10), die bezüglich der Dauerhaftigkeit der Budgetkonsolidierungen pessimistisch stimmen.

Angesichts der oben erhobenen Daten ist es deshalb fragwürdig, ob die Sanktionen des Stabilitätspaktes in der Zukunft rigoros angewendet werden, könnte das doch ein erhebliches Ausmaß an finanzieller Belastung für etliche Staaten bedeuten.

Deshalb - und da der Grenzwert von 0,75% BIP-Rückgang nicht in der einschlägigen Verordnung enthalten sein wird - ist es meines Erachtens wahrscheinlich, daß es auch bei einem Rückgang des BIP um weniger als 0,75% oder sogar bei positiven Wachstumsraten zu einem formellen Abstimmungsverfahren kommen wird, in dem darüber entschieden werden wird, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt und Sanktionen anzuwenden sind.(11)

B. Abstimmungsergebnisse ex post

Oben wurde davon ausgegangen, daß in den Fällen, in denen ein übermäßiges Defizit vorlag und das BIP zwischen 0,75% und 2% zurückgegangen ist, im EU-Rat eine Sperrminorität gegen die Verhängung von Sanktionen zustandegekommen wäre.

Im Falle eines übermäßigen Defizits sind zwei Abstimmungen zur Verhängung von Sanktionen notwendig. Zuerst stimmen alle EWU-Teilnehmer inklusive des betroffenen Staates darüber ab, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt. Wird das festgestellt, ist damit für den betroffenen Staat lediglich die Verpflichtung verbunden, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Werden keine Gegenmaßnahmen getroffen oder sind sie ungenügend, wird nach vier Monaten ein zweites Mal abgestimmt, ob Sanktionen verhängt werden sollen. Es ist auf den ersten Blick unverständlich, warum noch einmal abgestimmt werden muß, wenn von dem betroffenen Staat keine Maßnahmen zur Korrektur des Defizits ergriffen worden sind. Eine mögliche Erklärung für diese Redundanz besteht darin, daß dadurch eine weitere diskretionäre Hürde vor der tatsächlichen Verhängung von Sanktionen aufgebaut werden soll. Denn der Stabilitätspakt erlaubt den abstimmungsberechtigten Staaten unterschiedliches Abstimmungsverhalten in beiden Wahlgängen.

Im ersten Wahlgang hat die Zustimmung zu einem übermäßigen Defizit für den betroffenen Staat noch keine finanziellen Auswirkungen, sondern vor allem Signalwirkung für eine rasche Defizitbegrenzung. Strategisches Abstimmungsverhalten erscheint mir deswegen in dieser ersten Abstimmung weniger wahrscheinlich als im zweiten Wahlgang.


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Denn Staaten, deren Defizit selbst über 3% des BIP beträgt, dürfen gemäß Stabilitätspakt über andere „Budgetsünder" abstimmen. Stimmen sie für Sanktionen, müssen sie damit rechnen, daß der zuerst betroffene Staat in der nächsten Abstimmung über die anderen Staaten mit einem übermäßigen Defizit ebenfalls für Sanktionen stimmen wird.

Deshalb wird für die folgende Analyse des Abstimmungsverhaltens bei einem übermäßigen Defizit angenommen, daß ein Staat mit übermäßigem Defizit gegen die Verhängung von Sanktionen gegen einen anderen Staat mit übermäßigem Defizit stimmt. Damit wird das Abstimmungsverhalten der Staaten bei der zweiten und entscheidenden Abstimmung vom eigenen Defizit abhängig gemacht. Diese Annahme impliziert, daß Interessenkoalitionen zwischen einzelnen Staaten (strategisches Abstimmungsverhalten) berücksichtigt werden.

Im folgenden wird berechnet, ob es im Zeitraum 1979 bis 1996 unter der Annahme eines solchen Abstimmungsverhaltens zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit für Sanktionen hätte kommen können. Dabei wird eine qualifizierte Zwei-Drittel-Mehrheit für die Feststellung eines übermäßigen Defizits verlangt und der Illustration halber angenommen, daß ein betroffener Staat keine budgetären Gegenmaßnahmen ergreift, sodaß es zu einer zweiten Abstimmung ohne Stimmrecht des betroffenen Staates kommt.

Betrachtet man nur die Fälle in den 15 EU-Staaten, in denen das Defizit 3% des BIP überschritten hat und das BIP zwischen 0,75% und 2% geschrumpft ist (in Tabelle 1 fett), so wäre in keinem der 14 relevanten Fälle in der zweiten Abstimmung eine Zwei-Drittel-Mehrheit für Sanktionen zustande gekommen. Die Staaten mit übermäßigen Defiziten hätten immer eine Sperrminorität erreicht, die nicht selten eine Majorität gewesen wäre. Das selbe Ergebnis gilt, wenn man nur die jeweiligen EWS-Mitglieder heranzieht. Einfache Mehrheitserfordernis hätte für die Verhängung von Sanktionen ebenfalls nicht genügt.

Geht man davon aus, daß es selbst bei Wachstumsraten, die minus 0,75% des BIP übersteigen, zu formellen Abstimmungen kommt, wäre es bei strategischem Abstimmungsverhalten zwischen 1979 und 1996 lediglich in einem Jahr zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit für Sanktionen gekommen. 1989 hätten die Staaten mit übermäßigem Defizit (Belgien, Griechenland, Irland, Niederlande) keine Sperrminorität bei einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zustandegebracht. Allerdings betrug in diesem Jahr die durchschnittliche Wachstumsrate der EU-Staaten 4,0% des BIP. Ein wenig ermutigendes Zeichen, daß nur in einer Hochkonjunktur ein übermäßiges Defizit mit Geldstrafen belegt worden wäre.

Gegen übermäßige Defizite in den jeweiligen EWS-Staaten wäre - unabhängig von den Wachstumsraten - bei qualifizierter (Zwei-Drittel) Mehrheit in keinem Fall eine Geldstrafe verhängt worden.

Das Ergebnis ändert sich beim Übergang zu einfacher Abstimmungsmehrheit. Innerhalb des EWS wäre 1979 und 1980 und von 1984 bis 1991 jeweils eine einfache Mehrheit für Sanktionen möglich gewesen, bei einer Abstimmung aller 15 EU-Staaten in den Jahren 1979, 1980 und 1985 bis 1991. Es handelt sich dabei um Jahre guter Konjunktur, in denen eine Vermeidung übermäßiger Defizite möglich und eine Sanktionierung vertretbar gewesen wäre.

Dieses Ergebnis legt den Schluß nahe, daß die jetzige institutionelle Ausgestaltung der Abstimmungsprozesse im Rahmen des Stabilitätspaktes als zu „defizitfreundlich" einzustufen ist. Ein Übergang zu einfachen Abstimmungsmehrheiten würde die fiskalisch disziplinierten Staaten eher vor übermäßigen Defiziten anderer Mitglieder schützen können und dem Stabilitätspakt mehr Glaubwürdigkeit verleihen.

Ergeben sich aus der wirtschaftstheoretischen Basis des Stabilitätspaktes, der Verknüpfung von staatlichem Nettodefizit und volkswirtschaftlicher Wachstumsrate, weniger Probleme?


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C. Zweifel am Zusammenhang zwischen Defizit und Wachstum

Gegenstand dieses Abschnittes ist die Frage, ob die vom Stabilitätspakt gewählte Beurteilung eines übermäßigen Defizits in Abhängigkeit von der Wachstumsrate des BIP theoretisch und empirisch sinnvoll ist.

Zwischen der Neuverschuldung und der Wachstumsrate des BIP besteht eine wechselseitige Beziehung, die zumindest in der Fristigkeit der Wirkungen grob weiter aufgetrennt werden kann.

Das Wachstum beeinflußt vor allem kurz- und mittelfristig über die einkommen- und gewinnbezogenen Steuereinnahmen und über die für soziale Programme getätigten Staatsausgaben den Budgetsaldo. Starke öffentliche Verschuldung hingegen führt längerfristig über crowding out-Effekte zu einer Reduzierung des Kapitalstocks und damit zu geringeren Produktionsmöglichkeiten und Wachstumseinbußen.

Für den Zeitraum von 1979 bis 1996 wurde untersucht, ob sich der kurzfristige Einfluß des BIP-Wachstums auf das jeweilige Nettodefizit als signifikant nachweisen läßt. Dazu wurde eine einfache lineare Regression mit dem Wachstum als erklärender und dem Defizit als zu erklärender Variable durchgeführt (Tabelle 4).

Lediglich in Irland und Luxemburg läßt sich ein auf dem 5%-Niveau signifikanter Zusammenhang erkennen. Für 12 Staaten mit Ausnahme von Dänemark, Finnland und Luxemburg erweist sich die Konstante als signifikant von Null verschieden, was auf von der Konjunkturlage unabhängige strukturelle Defizite schließen läßt.

Das vermutete Erklärungspotential des Wachstums für die Höhe der staatlichen Defizite läßt sich mit Ausnahme von Irland und Luxemburg nicht bestätigen.(12)

Als nächstes wurde untersucht, ob eine Verzögerung des Wachstums um ein oder zwei Perioden als erklärender Variable einen stärkeren Zusammenhang erkennen läßt. Dafür spricht etwa die Trägheit der Wirkungen der automatischen Stabilisatoren, vor allem der konjunkturreagiblen veranlagten Einkommensteuer.

Die lineare Regression zeigt für die Mehrheit der EU-Staaten zum Teil deutlich verbesserte Resultate gegenüber den Daten mit unverzögertem Wachstum. (Tabelle 5)

Für 6 der 15 Staaten (A, DK, F, GB, S, SF) konnte ein auf dem 5%-Niveau statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem um zwei Perioden verzögerten Wachstum und dem Defizit festgestellt werden.(13)

Diese etwas besseren Ergebnisse stellen die Spezifizierung des Zusammenhangs zwischen dem staatlichen Nettodefizit und der Wachstumsrate, wie sie im Stabilitätspakt vorgenommen worden ist, in Frage. Aus diesem Grund wäre eine Berücksichtigung von Wirkungsverzögerungen des Wachstums auf das Nettodefizit im Stabilitätspakt wünschenswert.


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V. Abstimmungsmacht in Koalitionsspielen: eine spieltheoretische Analyse und ein Reformvorschlag

Im folgenden werden die bisherigen Ergebnisse durch eine Anwendung der Spieltheorie auf die Abstimmungsprozesse im Rahmen des Stabilitätspaktes ergänzt.(14)

In der Spieltheorie sind verschiedene Konzepte entwickelt worden, wie die Auszahlungsvektoren in gewichteten Abstimmungsspielen bestimmt werden können. Die „klassischen" Machtindizes sind der Shapley-Shubik-Index und der Banzhaf-Index.(15) Hier wird der Banzhaf-Index für die Abstimmung im Rahmen des Stabilitätspaktes verwendet, um Einblicke in die aufgrund der Stimmverteilung für die einzelnen Staaten a priori gegebene Abstimmungsmacht in der EWU zu gewinnen und darauf aufbauend alternative Vorschläge für die institutionelle Ausgestaltung des Stabilitätspaktes gewinnen zu können.

Der Banzhaf-Index ergibt sich aus dem Umfang, in dem einzelne Spieler (Staaten) zum Erfolg einer Koalition beitragen. Dazu wird die Anzahl der Koalitionen ermittelt, in denen Staat i die entscheidenden Stimmen beiträgt, damit die Koalition die Abstimmung gewinnt oder ein unerwünschtes Ergebnis verhindern kann. Man sagt in einem solchen Fall, daß der Staat i einen „Swing" bzgl. dieser Koalition hat. Einen Swing zu haben, begründet Abstimmungsmacht.

Berechnet wird der ungewichtete Banzhaf-Index ß* durch die Division der Swings eines Staates i durch die Anzahl aller möglichen Koalitionen K, an denen Staat i beteiligt sein kann.(16)

(1)

Eine Gewichtung des Banzhaf-Indexes erfolgt durch die Division des ungewichteten Indexes durch die Gesamtsumme aller ungewichteten Indizes.

(2)

Die Verwendung des Banzhaf-Indexes unterliegt der Annahme voneinander unabhängigen Abstimmungsverhaltens der teilnehmenden Staaten. Das Abstimmungsverhalten wurde in diesem Artikel lediglich davon abhängig gemacht, ob ein Staat ein Defizit von über 3% des BIP aufweist.(17)

Folgende Eigenschaften des gewichteten Banzhaf-Index sind bedeutsam für die weiteren Berechnungen (Holler und Illing, 1996, S. 306ff.):

a) Der Index ß ist (positiv) monoton in den Stimmgewichten w: ßi >= ßj, falls wi > wj.

b) ßi = ßj, wenn wi = wj.

c) Der Index ist nicht-monoton in Veränderungen der Stimmgewichte wi. Aus wi° - wi > 0 folgt nicht immer ßi° - ßi >= 0.

d) Eine Abänderung der Mehrheitserfordernisse verändert in der Regel die Indexwerte für die einzelnen Staaten.

e) Der Index unterscheidet sich meist von der relativen Stimmenverteilung und dem Shapley-Shubik-Index.


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Für eine Kalkulation des Banzhaf-Indexes wurden zwei unterschiedliche Größen der EWU angenommen. Zum einen wurde eine Kernwährungsunion bestehend aus den Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Österreich (im folgenden EWU-6) gewählt, um die Abstimmungsmacht in einer relativ kleinen Währungsunion simulieren zu können. Diese 6 Staaten entsprechen innerhalb der EU am ehesten den verschiedenen Kriterien, die zur Abgrenzung eines optimalen Währungsgebietes formuliert worden sind (Mayer 1996, S. 189ff.).

Zum anderen wurden alle 12 derzeitigen EWS-Staaten als künftige Mitglieder in der EWU angenommen (ausgenommen bleiben in diesem Fall Griechenland, Großbritannien und Schweden). Für diese große Währungsunion (im folgenden EWU-12) fungierte die EWS-Mitgliedschaft als Auswahlkriterium, weil Art. 109j EG-Vertrag als Voraussetzung für die Teilnahme an der EWU die „Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaates" verlangt. Zwar ist die Bedeutung von „normalen" Bandbreiten seit der Erweiterung der EWS-Bandbreiten auf 15% im August 1993 umstritten, aber die zumindest zweijährige Mitgliedschaft im EWS ist für den Eintritt in die EWU notwendig.(18)

In Tabelle 6 und Tabelle 7 sind die Banzhaf-Indizes für die EWU-6 und EWU-12 bei einfacher und qualifizierter Zwei-Drittel-Mehrheit ausgewiesen.

Für die EWU-6 läßt sich die Interpretation der Ergebnisse in zwei Stränge unterteilen:

a) Besteht ein übermäßiges Defizit in einem kleinen Staat (A, B, L, NL), so ist die Abstimmungsmacht für alle kleinen Staaten gleich, obwohl sie über deutlich unterschiedliche Stimmgewichte verfügen (2 Stimmen für L, 4 Stimmen für A, 5 Stimmen für B oder NL). Ein Übergang von qualifizierter Mehrheit zu einfacher Mehrheit erhöht ihre relative Abstimmungsmacht. Das bedeutet, wird über einen kleinen Staat wegen eines übermäßigen Defizits abgestimmt, wächst bei einfacher Mehrheitserfordernis die Macht der anderen kleinen Staaten, Sanktionen über den betroffenen Staat zu verhängen.

b) Im Falle der Abstimmung über einen großen Staat (D, F) gewinnt der verbleibende abstimmungsberechtigte große Staat im Verhältnis zu den Abstimmungen über kleine Staaten an Macht. Ein Übergang zu einfachen Mehrheiten verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Der Banzhaf-Index des abstimmenden großen Staates steigt auf 0,5. Kleine Staaten haben bei qualifizierter Mehrheit mehr Abstimmungsmacht, übermäßige Defizite großer Staaten zu sanktionieren. Davon zu unterscheiden ist allerdings, daß bei einfachen Mehrheiten die Wahrscheinlichkeit einer Sanktionierung steigt, da eine Sperrminorität schwieriger zustandegebracht werden kann. Die Indizes für Belgien, Niederlande und Österreich sind gleich. Luxemburg hingegen verliert seine gesamte Abstimmungsmacht. Es ist in keinem Fall für den Abstimmungserfolg einer Koalition verantwortlich.(19)

In der EWU-12 gewinnen die Staaten mit 10 Stimmen (D, F, I) immer relativ an Abstimmungsmacht beim Übergang von qualifizierter zu einfacher Mehrheit, während die Staaten mit 5 Stimmen (B, NL, P) dabei verlieren. Für die restlichen Staaten ergibt sich keine derartig eindeutige Aussage. Tendentiell gewinnen Staaten an Macht, wenn über Staaten ähnlicher Stimmgröße abgestimmt wird.

Wie in der EWU-6 verfügen die kleinen Staaten bei qualifizierter Mehrheit über relativ mehr Macht, um gegen übermäßige Defizite großer Staaten Sanktionen verhängen zu können.

Insgesamt aber werden Sanktionen generell wahrscheinlicher bei der Anwendung der einfachen Mehrheitsregel, weil es schwieriger wird, eine Sperrminorität zustandezubringen.


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A. Ein Reformvorschlag

Abschließend soll noch eine Reform im Abstimmungsmechanismus des Stabilitätspaktes vorgeschlagen werden, die die Anreize für Budgetdisziplin erhöhen könnte.

In den entscheidenden zweiten Abstimmungen über Staaten mit übermäßigen Defiziten wäre eine doppelte Gewichtung der Stimmanteile eines Staates möglich. Die gemäß Art. 148 EG-Vertrag einem Staat zukommenden Stimmen bei Mehrheitsentscheidungen könnten mit einer Zahl multipliziert werden, die sich am durchschnittlichen Defizit der beiden der Abstimmung vorausgehenden Jahre orientiert.

Denkbar wäre eine Multiplikation der Stimmgewichte im Rat

bei einem durchschnittlichen Defizit

Je kürzer die Spanne zur Berechnung der Durchschnitte, umso rascher bekommt ein Staat hohe Stimmgewichte, wenn er sein Budget konsolidiert. Damit würde ein Anreiz zur schnelleren Verringerung übermäßiger Defizite gesetzt.(20)

Mit einer vom eigenen Defizit abhängigen Gewichtung der Stimmen im Ministerrat könnte den Hartwährungsländern, die gegenwärtig auf eine strikte Erfüllung zumindest des Defizitkriteriums pochen, die Sorge genommen werden, daß sie in der Währungsunion gegenüber den Weichwährungsländern an Verhandlungsmacht verlieren (Bovenberg und de Jong, 1997, 96) und daß die Weichwährungsländer über expansive Verschuldung die Stabilität der gemeinsamen Währung gefährden.

Zur Veranschaulichung wurden Schätzungen der Nettodefizite in den EU-Staaten für die Jahre 1997 und 1998 (Tabelle 1) herangezogen, um eine doppelte Gewichtung durchzuführen und zu sehen, mit welchen Stimmanteilen die Staaten 1999 in die EWU bei Anwendung der doppelten Gewichtung starten könnten.

Aus den Schätzungen ergibt sich eine Multiplikation der Stimmgewichte gemäß Art. 148 EG-Vertrag mit 4 für die Staaten DK, IRL, L; mit 3 für SF und mit 2 für A, B, D, NL, P.

Die Tabellen 8 und 9 zeigen, welche a priori Abstimmungsmacht entsprechend dem Banzhaf-Index daraus resultiert. Kleine, budgetär disziplinierte Staaten wie Dänemark oder Irland könnten an Stimmkraft große Staaten wie Frankreich oder Italien übertreffen. Der stimmenstärkste Staat (Deutschland) würde seine Abstimmungsmacht im Verhältnis zu den anderen Staaten mehr als verdoppeln und von einer Anwendung des Prinzips der einfachen Mehrheit profitieren. Eventuell ließen sich Skeptiker des Projektes Währungsunion in diesem für seine Realisierung maßgebenden Staat durch eine doppelte Gewichtung der Stimmen eher für die Währungsunion begeistern, wäre dadurch doch mehr Macht in der Sanktionierung übermäßiger Defizite anderer Mitgliedstaaten verbunden.


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VI. Zusammenfassung

Die bisherigen Ergebnisse bestätigen, daß die institutionelle Ausgestaltung des Stabilitätspaktes von wesentlicher Bedeutung für die Glaubwürdigkeit des Paktes und die Wahrscheinlichkeit der Verhängung von Sanktionen bei übermäßigen Defiziten in den EWU-Mitgliedern ist.

Der EU-Rat wird durch die Verordnung zum Stabilitätspakt nicht an die in der Vorlage der Wirtschafts- und Finanzminister erwähnten Wachstumsraten zur Beurteilung der Zulässigkeit eines übermäßigen Defizits gebunden sein. Auch bei positiven Wachstumsraten und Rückgangen von bis zu 0,75% des BIP werden Abstimmungen über die Sanktionen gegen übermäßige Defizite möglich sein.

Zwar sind die hypothetischen Abstimmungsergebnisse während der Existenz des Europäischen Währungssystems als einer Vorstufe monetärer Kooperation in Europa nicht auf die künftige EWU zu übertragen(21), aber sie lassen befürchten, daß selbst in einer Hochkonjunktur keine Abstimmungsmehrheiten für Sanktionen gegen übermäßige Defizite, die gerade bei guter Wirtschaftslage zu verhindern wären, zustande kommen könnten. Mitverursacht wird diese Gefahr durch das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit in einer Abstimmung über Sanktionen. Dadurch wird die Bildung einer Sperrminorität leichter möglich. Wäre nur eine einfache Mehrheit erforderlich, wären in den konjunkturell überdurchschnittlichen Jahren des letzten Jahrzehnts Sanktionen gegen übermäßige Defizite hypothetisch zustande gekommen.

Annahme der hypothetischen Abstimmungen war, daß ein Staat immer im Eigeninteresse abstimmt. Das bedeutet, er stimmt für Sanktionen, wenn er selbst ein Defizit von weniger als 3% des BIP hat, und gegen Sanktionen im umgekehrten Fall. Diese Annahme führt zu einer (wechselnden) Koalition der fiskalisch disziplinierten Staaten. Ob diese Koalition in der EWU stabil sein wird, läßt sich nicht vorhersagen.

Der Zusammenhang zwischen Nettodefizit und Wachstumsrate des BIP hat sich in der Periode 1979 bis 1996 nur in einer Minderheit der EU-Staaten als statistisch signifikant erwiesen. Es besteht Evidenz dafür, daß die Beurteilung eines übermäßigen Defizits in Abhängigkeit von einer um ein oder zwei Perioden verzögerten Wachstumsrate geeigneter wäre als die im Stabilitätspakt gewählte periodengleiche Beziehung.

Die spieltheoretischen Simulationen zeigen, daß die großen Staaten bei einer Anwendung der einfachen Mehrheitsregel gegenüber den kleinen Staaten an a priori Abstimmungsmacht gemäß dem gewichteten (und ungewichteten) Banzhaf-Index gewinnen. Für kleine Staaten ergibt sich daraus, daß ihre Macht hinsichtlich der Sanktionierung übermäßiger Defizite in großen Staaten, durch die kleine Staaten weit stärker betroffen werden als im umgekehrten Fall, bei qualifizierter Mehrheitserfordernis besser geschützt ist.

Doppelte Gewichtung der Stimmen nach Art. 148 EG-Vertrag und nach dem Durchschnitt des eigenen Nettodefizits der letzten zwei Jahre würde einen Anreiz für raschere Budgetkonsolidierungen geben und die budgetär disziplinierten Hartwährungsländer in eine dominierende Abstimmungsstellung gegenüber fiskalisch undisziplinierten Weichwährungsländern bringen. Durch eine solche institutionelle Reform des Stabilitätspaktes könnte in den Hartwährungsländern die Bildung einer großen Währungsunion an Akzeptanz gewinnen.


References

Banzhaf, J., 1965, Weighted Voting Doesn´t Work: A Mathematical Analysis, in: Rutgers Law Review, 19, S. 317-343.

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Endnotes

(1) Dies resultiert etwa aus sinkenden Zinssätzen aufgrund abnehmender Risikoprämien für hochverschuldete Staaten oder aus zunehmender Verschuldung aufgrund erwarteter höherer Wachstumsraten in wirtschaftlich rückständigen Staaten oder Regionen. (Holzmann und Hervé und Demmel, 1996, S. 29ff.; Bovenberg und de Jong, 1997, S. 96f.).

(2) Eine Alternative zu Verschuldungsbeschränkungen wäre im Vertrauen auf die Disziplinierungskraft der internationalen Finanzmärkte gelegen. Diese wurde von den Architekten des EUV als (noch) nicht ausreichend eingestuft.

(3) Die politische Interpretation der fiskalischen Konvergenzkriterien konvergiert derzeit dahin, daß die Schuldenquote 60% des BIP übersteigen darf, aber im Zeitablauf zumindest konstant oder rückläufig sein muß. Die Nettodefizitgrenze von 3% des BIP soll dagegen strikt eingehalten werden. Bei ausgeglichenen oder positiven Budgets wird die Schuldenquote längerfristig stabilisiert oder reduziert werden.

(4) Beachte den Rollenkonflikt, der sich dadurch ergibt, daß ein übermäßiges Budgetdefizit von jenen festgestellt und letztlich bestraft werden soll, die für das Zustandekommen als Finanzminister die Verantwortung tragen. (Siebert, 1997, S. 9).

(5) Ab 1979 Belgien (B), Dänemark (DK), Deutschland (D), Frankreich (F), Luxemburg (L), Niederlande (NL). Spanien (E) ab 1989, Portugal (P) ab 1992, Österreich (A) ab 1995, Finnland (SF) ab 1996, Italien (I) zwischen 1979 und 1992 und ab 1996; Großbritannien (GB) zwischen 1990 und 1992. Gegenwärtig nehmen Griechenland (GR), Großbritannien und Schweden (S) am Wechselkursmechanismus des EWS nicht teil.

(6) Die Europäische Kommission erstellt aber Berichte bzgl. der Erfüllung der Konvergenzkriterien, in denen in den Jahren 1994 lediglich Luxemburg und Deutschland, 1995 Luxemburg und Irland, 1996 Luxemburg, Irland, Dänemark und Niederlande als Staaten ohne übermäßige Defizite ausgewiesen wurden.

(7) Bemerkenswert ist der Umstand, daß in Großbritannien und Finnland 1991 trotz Wachstumseinbußen von 2% respektive 7,1% die Nettodefizite mit 2,5% respektive 1,5% unter der 3%-Grenze blieben. Im gleichen Jahr hatte Schweden einen Rückgang des BIP von 1,1% und ein Defizit in derselben Höhe. Das deutet darauf hin, daß die Erklärung des Defizits eines Jahres mit der entsprechenden Wachstumsrate nicht optimal sein könnte. Vergleiche dazu weiter unten.

(8) Auf das mögliche Abstimmungsverhalten in einem solchen Fall wird weiter unten näher eingegangen.

(9) Der Einfachheit halber werden die Prozentwerte des jeweiligen BIP addiert, ohne die Veränderung des BIP als Basis zu berücksichtigen. Da es hier um Anhaltspunkte für die Größenordnungen geht, wurde auf eine exakte Kumulierung verzichtet.

(10) Man denke etwa an die EU-Steuer in Italien, die Übernahme der Pensionsverpflichtungen von France Télécom durch den französischen Staat im Gegenzug für eine einmalige Zahlung von etwa 0,5% des französischen BIP oder an die Aussetzung der steuerlichen Berücksichtigung von Verlustvorträgen in Österreich für die Jahre 1996 und 1997.

(11) Damit würde der Stabilitätspakt den ursprünglichen Bestimmungen des Art. 104c EG-Vertrag zu einem Verfahren bei einem übermäßigen Defizit hinsichtlich des Entscheidungsprozesses über Sanktionen mit dem Unterschied einer Straffung der zeitlichen Abwicklung weitgehend entsprechen.

(12) Eine lineare Regression zwischen den durchschnittlichen ungewichteten Nettodefiziten und den durchschnittlichen ungewichteten Wachstumsraten der EU-15 für den Beobachtungszeitraum zeigt hingegen eine sehr signifikante Beziehung zwischen beiden Größen. Dies dürfte ein Ergebnis der Durchschnittsbildung sein. Dadurch werden die Beziehung zwischen Wachstum und Defizit überlagernde Faktoren wie Steuerreformen oder Budgetkonsolidierungen zum Teil wechselseitig kompensiert und der Einfluß des Wachstums auf die Einnahmen und Ausgaben des Budgets tritt stärker hervor.
Durbin-Watson Werte zwischen 0 und 1 weisen für alle 15 Regressionen eine positive Autokorrelation der Residuen auf, wodurch eine der Voraussetzungen für die lineare Regression verletzt sein dürfte.

(13) Die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen EU-Defizit und der um zwei Perioden verzögerten durchschnittlichen EU-Wachstumsrate war nicht mehr signifikant.
Bei einer Verzögerung um eine Periode ergaben sich für 5 Staaten (Finnland, Frankreich, Irland, Luxemburg, Schweden) und den EU-Durchschnitt signifikante Ergebnisse.

(14) Zu spieltheoretischen Aussagen über die Abstimmungsmacht in der EU, etwa im Zusammenhang mit EU-Erweiterungen vgl. Widgren, 1994; Kirman und Widgren, 1995.

(15) Shapley und Shubik, 1954; Banzhaf, 1965.
Der Shapley-Shubik-Index (SSI) geht davon aus, daß die Abstimmungspräferenzen der Staaten homogen sind; das ist der Fall „when their probability of voting for this issue is the same for each of them." (Kirman und Widgren, 1995, S. 430) Der SSI berücksichtigt alle möglichen Abstimmungsreihenfolgen (Permutationen; also n! bei n Staaten) und zählt die Fälle, in denen die Stimmen eines Staates i eine Verlustkoalition in eine Gewinnkoalition umwandeln (dann ist Staat i ein Pivot-Spieler). Diese Anzahl wird durch die Anzahl der Permutationen dividiert.

(16) Darin sind auch die Einserkoalition (nur Staat i) und die Gesamtmenge (alle Abstimmenden sind in derselben Koalition) inkludiert. Dadurch ergeben sich 2n-1 Koalitionsmöglichkeiten mit n als Anzahl der abstimmenden Staaten.

(17) Die Unabhängigkeit der Entscheidung wird dadurch eingeschränkt, daß über die konjunkturelle Verbundenheit der (offenen) Volkswirtschaften der EU in einer rezessiven Situation gleichartige Effekte auf die Höhe des Budgetsaldos aller Staaten wirken, wodurch wiederum das Abstimmungsverhalten beeinflußt wird. Von dieser Beeinträchtigung wird im weiteren aber abgesehen und der Banzhaf-Index als geeignet für die Bestimmung der Abstimmungsmacht in der künftigen EWU angesehen.

(18) Das ist die Ursache, warum Italien und Finnland im Herbst 1996 dem EWS (wieder) beigetreten sind, um ab 1999 Gründungsmitglied der EWU werden zu können.

(19) Man spricht hier davon, daß Luxemburg ein Dummy ist.

(20) Hasse (1997) schlägt als ultima ratio gegen jene Staaten, die gegen ein übermäßiges Defizit keine geeigneten Maßnahmen setzen, den Verlust des Stimmrechts im Ministerrat in allen Entscheidungen (nicht nur bei jenen im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt) vor. Erst mit Erfüllung des Defizitkriteriums sollte das Stimmrecht wiederaufleben. Gegenüber diesem radikalen Vorschlag beschränkt sich die doppelte Gewichtung des hier unterbreiteten Vorschlags auf Abstimmungen im Rahmen des Stabilitätspaktes.

(21) Dies gilt auch, weil in der EWU eine einheitliche Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank betrieben werden wird, während im EWS die nationale Geldpolitik de jure autonom war, sich de facto allerdings an der Geldpolitik der Deutschen Bundesbank ausgerichtet hat.


©1997 by Sutter
arranged by MN, 25.6.1997